Was heisst es praktisch, hochsensibel (neurosensitiv) zu sein?
Ich lade dich ein, Einblick in den Alltag einer hochsensiblen Frau zu nehmen, nennen wir sie Katrin. Es handelt sich dabei um eine fiktive Person, in der viele Erfahrungen hochsensibler Klientinnen und Klienten zusammenfliessen.
Fallbeispiel I
Katrin schläft schlecht – jedenfalls ist das ihre Vorstellung. Sie schläft nie länger als vier bis fünf Stunden am Stück und ist dann regelmässig um vier Uhr morgens hellwach. Die Zeit bis zum Aufstehen verbringt sie dann mit Gedanken wie «noch drei Stunden, ich sollte noch schlafen, sonst bin ich heute zu nichts zu gebrauchen. Was liegt alles an? Ich habe mir wieder viel zu viele Termine aufgehalst. Und die Besprechung mit meinem Chef – was er wohl von mir will? Habe ich einen Fehler gemacht? Wenn ich doch nur schlafen könnte – ich brauche meine acht Stunden Schlaf …» Starkes Herzklopfen stellt sich ein. Katrin dämmert vor sich hin, bis ihr Mann sich umdreht und sie durch die Bewegung wieder richtig wach ist. Sie verfolgt die Minuten auf der Uhr neben ihrem Bett. Einen Wecker benutzt sie schon lange nicht mehr, weil sie immer schon früher wach ist. Langsam wird es draussen hell.
Kommt dir dies so ähnlich oder bekannt vor? Dieses Beispiel illustriert, wie sich eine hochsensible Veranlagung ausdrückt, wenn sie unerkannt ist. Unerkannte Hochsensibilität führt zu Hadern und unnötigem Leidensdruck sowie Vergleichen mit Normalsensiblen. Derselbe Tagesablauf kann für jemanden, der sich seiner hochsensiblen Veranlagung bewusst ist, ganz anders aussehen.
Im folgenden Beispiel nenne ich die fiktive Protagonistin Helen. Dass es sich bei beiden Beispielen um Frauen handelt, ist reiner Zufall, Hochsensibilität liegt bei genauso vielen Männern wie bei Frauen vor.
Fallbeispiel II
Auch Helen schläft selten mehr als vier Stunden am Stück. Wenn sie mitten in der Nacht aufwacht, ist ihr bewusst, dass ihr Organismus die vielen Reize verarbeitet, die er tagsüber «eingesammelt» hat. Mit diesem Wissen kann sie ihren individuellen Schlafrhythmus gut akzeptieren. Sie konzentriert sich darauf, ruhig und gleichmässig zu atmen. Manchmal, wenn sie sehr wach ist in der Nacht, greift sie zum Block, der griffbereit auf ihrem Nachttisch liegt, um sich Gedanken zu notieren. Dann kuschelt sie sich tief in ihre Bettwäsche und geniesst en je nach Jahreszeit kühlenden oder wärmenden Stoff auf ihrer Haut. Sie ist dankbar dafür, dass sie noch drei Stunden so liegen bleiben kann, ob sie in dieser Zeit schläft, tritt in den Hintergrund.
Nun hast du zwei ähnliche, aber dennoch sehr unterschiedliche Tagesverläufe kennengelernt. Bei Katrin haben die Anforderungen ein Gefühl der Unzulänglichkeit hervorgerufen, während Helen, die sich ihrer Hochsensitivität bewusst war, den gleichen Anforderungen mit Achtsamkeit und nützlichen Strategien entgegentreten konnte.
Solange die Veranlagung nicht erkannt wird, leiden Hochsensible unter ihrer Situation und begegnen sich selbst mit Unverständnis. Gelingt es aber, die eigenen Hochsensitivität zu erkennen und sich damit bewusst auseinanderzusetzen, kann sie in die eigene Persönlichkeit integriert werden. Grundvoraussetzung dabei ist das Bewusstsein, über andere biologische Voraussetzungen zu verfügen. Bewusstsein schafft die Möglichkeit zur Akzeptanz. Diese wiederum ebnet den Weg zu nützlichen Strategien, um dem Energieverlust entgegenzuwirken, sich nicht länger mit anderen zu vergleichen und sogar Dankbarkeit und Freude für die eigene Art, im Leben zu stehen, zu empfinden.
Aus: ‘Hochbegabung und Hochsensibilität’
Theres Germann-Tillmann, Karin Joder, René Treier, Reneé Vroomen-Marell
Schattauer Verlag
ISBN: 978-3-608-40089-2