Was heisst es praktisch, hochsensibel (neurosensitiv) zu sein?

Ich lade dich ein, Einblick in den Alltag einer hochsensiblen Frau zu nehmen, nennen wir sie Katrin. Es handelt sich dabei um eine fiktive Person, in der viele Erfahrungen hochsensibler Klientinnen und Klienten zusammenfliessen.

Fallbeispiel I

Katrin schläft schlecht – jedenfalls ist das ihre Vorstellung. Sie schläft nie länger als vier bis fünf Stunden am Stück und ist dann regelmässig um vier Uhr morgens hellwach. Die Zeit bis zum Aufstehen verbringt sie dann mit Gedanken wie «noch drei Stunden, ich sollte noch schlafen, sonst bin ich heute zu nichts zu gebrauchen. Was liegt alles an? Ich habe mir wieder viel zu viele Termine aufgehalst. Und die Besprechung mit meinem Chef – was er wohl von mir will? Habe ich einen Fehler gemacht? Wenn ich doch nur schlafen könnte – ich brauche meine acht Stunden Schlaf …» Starkes Herzklopfen stellt sich ein. Katrin dämmert vor sich hin, bis ihr Mann sich umdreht und sie durch die Bewegung wieder richtig wach ist. Sie verfolgt die Minuten auf der Uhr neben ihrem Bett. Einen Wecker benutzt sie schon lange nicht mehr, weil sie immer schon früher wach ist. Langsam wird es draussen hell.

Sie steht vor ihrem Mann auf, damit sie genug Zeit im Bad hat und sich nicht gedrängt fühlen muss. Ihr Magen braucht Zeit, um in die Gänge zu kommen, deshalb kann sie morgens nicht essen, aber eine Tasse Tee ist ihr wichtig. Kaffee trinkt sie nie, das Koffein verträgt sie schlecht.
Sie nimmt das Auto für den Arbeitsweg, weil sie die Menschenmenge zu den Stosszeiten in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht ertragen kann. Zu eng, zu viele Gerüche, zu viele Menschen, die sich in ihren Augen unhöflich verhalten; da ist sie lieber für sich allein und nimmt dafür in Kauf, dass ihr ökologisches Gewissen Alarm schlägt. Aber auch der Individualverkehr hat seine Nachteile: Es stresst sie über Gebühr, wenn andere Verkehrsteilnehmer zu dicht auffahren, für sie ist das Ausdruck von Aggressivität, daher führt Katrin innere Dialoge mit dem Fahrer hinterher. Im Büro angekommen fühlt sie sich bereits angespannt und hätte gerne ein paar Minuten für sich. Aber Fehlanzeige: Ihr E-Mail-Posteingang quillt über und ihr Chef möchte die Besprechung mit ihr, die für den Nachmittag vorgesehen war, jetzt gleich abhalten. Herzklopfen, Bauchgrimmen. Katrin fährt mit dem Fahrstuhl in die 3. Etage und registriert dabei, wie Kolleginnen und Kollegen an ihr vorbeieilen und sie ohne zu grüssen sogar streifen. Dieses Verhalten empfindet sie als höchst unhöflich. Im Fahrstuhl bemüht sie sich, ein Lächeln an ihre Mitfahrer und Mitfahrerinnen zu senden, aber diese reagieren nicht, was sie beschämt und verunsichert zurücklässt. Eigentlich hat sie schon jetzt von allem genug. Die Besprechung mit ihrem Chef läuft anders als erwartet. Es ist nur eine Sachfrage zu klären, zu der sie kompetent Auskunft geben kann. Dabei erfährt Katrin, dass nicht sie, sondern ein Kollege befördert worden ist. Enttäuscht ist sie schon, aber in ihrem Büro wendet sie sich ihren Mails zu. Es gibt einige darunter, die mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt erfordern als üblich. Während der Tag weiterläuft, geht ihr diese Korrespondenz ständig im Kopf herum, sie probiert Formulierungen aus und ein Teil ihrer Aufmerksamkeit ist ständig mit dem imaginierten Beantworten dieser Nachrichten beschäftigt. Obwohl die Tür nach nebenan zu dem Büro ihrer Kollegin Johanna geschlossen ist, spürt Katrin, dass die Atmosphäre anders ist als sonst. Sie kann nicht benennen warum oder was anders ist, aber es hat sich etwas verändert. Das Gefühl verstärkt sich im Laufe des Tages und führt schliesslich dazu, dass sie bei Johanna anklopft und fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie empfängt sie mit rotgeweinten Augen und ist dankbar dafür, bei Katrin auf offene Ohren zu stossen. Katrin hört sich eine gute halbe Stunde lang Johannas Probleme mit ihrem Freund an. Das ist ihr jetzt wichtiger als die Arbeit.
In der Firma ist es üblich, die Pausen miteinander zu verbringen. Die Kolleginnen und Kollegen treffen sich im Aufenthaltsraum mit Snackautomat und Kaffeemaschine. Die Pausen sind Katrin eigentlich ein Gräuel. Es gibt Kollegen, die selbstherrlich über Politik referieren, andere, die durch ihre Muffigkeit eine unangenehme Atmosphäre verbreiten und wieder andere, die durch extreme (so schein es ihr) Lebhaftigkeit den Raum dominieren. Sie holt sich ihren Tee, isst ihr mitgebrachtes Sandwich (sie mag die Angebote in der Cafeteria nicht) und zieht sich möglichst rasch wieder in ihr Büro zurück.
Am Vormittag klingelt das Telefon beinahe ununterbrochen. Bei jedem Klingeln gerät Katrin innerlich in Alarmbereitschaft. Mit dem Voranschreiten des Tages nimmt ihre innere Anspannung zu und sie sehnt die Mittagspause herbei. Endlich! Sie fühlt sich erschöpft, jetzt hat sie vierzig Minuten für sich. Mit einem Salat setzt sich Katrin im Park auf eine Bank. Die spätsommerliche Wärme kann sie geniessen. In der Nähe fliesst ein kleiner Bach vorbei, sie hört das Rauschen, das Singen der Vögel, nimmt die Bewegung des Grases wahr und bemerkt, wie sich ihr ganzer Körper diesen Eindrücken aus der Natur hingibt. Das ist eine gute Zeit. Dann fällt Katrin ein, dass ihr Mann heute ein wichtiges Meeting hat und sie greift nach ihrem Handy, um ihm schnell eine WhatsApp zu schreiben. Und während sie die Sonne auf ihrem Gesicht spürt, kommen ihr Gedanken an vergangene Ereignisse, Szenen aus ihrem Leben, aus ihren Beziehungen, aus der Kindheit in den Sinn. Aber der Moment auf dieser Bank in der Herbstsonne ist so schön, dass sie die Gedanken kommen und gehen lassen kann, ohne sie zu bewerten.
Dennoch spürt sie die Müdigkeit hinter ihren Augen, und als sie sich wieder auf den Weg in ihr Büro macht, fühlt sie sich erschöpft und kaum fähig, dem Nachmittag ins Auge zu blicken. Während ihrer Mittagspause hat Katrin gedanklich an ihren Mails herumgefeilt, die es noch zu beantworten gilt und zwei davon kann sie nun mit gutem Gewissen bearbeiten. Am Nachmittag läuft nun nicht mehr viel. Drei Kolleginnen möchten nach Feierabend in der Bar und um die Ecke noch etwas trinken gehen, sie spürt, dass es gut wäre, mitzugehen, wegen der Kollegialität und weil sie keine Aussenseiterin sein möchte, aber sie ist erschöpft und ihre Batterien sind jetzt schon leer, dass sie sich vorstellen kann, dabei zu sein. Katrin lässt es offen. Am Feierabend sehnt sie sich nach ihrem ruhigen Zuhause, sie möchte noch etwas fernsehen und früh ins Bett gehen. Katrin fährt nach Hause, reflektiert über den Tag, plant den kommenden, hört sich die Geschichten ihres Mannes an, geht früh ins Bett und kann dann nicht einschlafen…

Kommt dir dies so ähnlich oder bekannt vor? Dieses Beispiel illustriert, wie sich eine hochsensible Veranlagung ausdrückt, wenn sie unerkannt ist. Unerkannte Hochsensibilität führt zu Hadern und unnötigem Leidensdruck sowie Vergleichen mit Normalsensiblen. Derselbe Tagesablauf kann für jemanden, der sich seiner hochsensiblen Veranlagung bewusst ist, ganz anders aussehen.
Im folgenden Beispiel nenne ich die fiktive Protagonistin Helen. Dass es sich bei beiden Beispielen um Frauen handelt, ist reiner Zufall, Hochsensibilität liegt bei genauso vielen Männern wie bei Frauen vor.

Fallbeispiel II

Auch Helen schläft selten mehr als vier Stunden am Stück. Wenn sie mitten in der Nacht aufwacht, ist ihr bewusst, dass ihr Organismus die vielen Reize verarbeitet, die er tagsüber «eingesammelt» hat. Mit diesem Wissen kann sie ihren individuellen Schlafrhythmus gut akzeptieren. Sie konzentriert sich darauf, ruhig und gleichmässig zu atmen. Manchmal, wenn sie sehr wach ist in der Nacht, greift sie zum Block, der griffbereit auf ihrem Nachttisch liegt, um sich Gedanken zu notieren. Dann kuschelt sie sich tief in ihre Bettwäsche und geniesst en je nach Jahreszeit kühlenden oder wärmenden Stoff auf ihrer Haut. Sie ist dankbar dafür, dass sie noch drei Stunden so liegen bleiben kann, ob sie in dieser Zeit schläft, tritt in den Hintergrund.

Helen steht immer zur selben Zeit auf, der regelmässige Rhythmus tut ihr gut. Sie trinkt ihre Tasse Tee und denkt dabei an die Aufgaben, die heute vor ihr liegen. Ihr Chef hat um ein Gespräch gebeten. Sie beobachtet, wie beim Gedanken daran ihr Körper Alarmsignale, wie Herzklopfen und Nervosität, sendet. Sie kennt diese Körperreaktionen gut, weiss aber, dass diese nicht unbedingt auf eine reale Gefahr hinweisen müssen. Sie atmet ruhig und tief und denkt daran, dass sie kompetent ist, ihr Chef eigentlich kein schlechter Kerl ist und sie immer wohlwollend behandelt hat. Helen überlegt sich, dass sie bei dieser Gelegenheit auch die Beförderung ansprechen möchte. Bevor sie das Haus verlässt, sieht sie aus dem Fenster und nimmt sehr bewusst den Himmel, das Wetter und die Äpfel am Baum in Nachbars Garten wahr. Sie hat die Früchte in den letzten Wochen beim Wachsen beobachtet und sie freut sich an der Natur. Sie weiss, dass sie zu diesen Dingen heute Abend zurückkehren wird und ist nun bereit für den Tag.
Helen entscheidet sich bewusst dafür, ihre Kollegen und Kolleginnen freundlich zu begrüssen, einfach, weil Freundlichkeit ihr wichtig ist. Dabei erwartet sie nicht, dass andere ihr mit der gleichen Aufgeschlossenheit begegnen. Wenn es dennoch geschieht, freut es sie über alle Massen und sie nimmt den Moment wieder ganz bewusst wahr.
Das Gespräch mit ihrem Chef ist vorverlegt worden. Sie nimmt sich kurz vorher noch einmal Zeit, nach draussen zu sehen und das Grün der Bäume bewusst in sich aufzunehmen. Helen führt sich ihre Kompetenzen vor Augen, trinkt ein Glas Wasser und macht sich auf den Weg. Das Gespräch verläuft zufriedenstellend. Durch ihre mentale Vorbereitung ist sie konzentriert, freundlich und lösungsorientiert. Ihr Chef möchte nur eine Sachfrage klären und hat ein offenes Ohr für ihr Anliegen. Zurück in ihrem Büro checkt sie ihre E-Mails. Es sind sehr viele, die sie heute noch erledigen sollte. Sie nimmt sich einen Moment Zeit, um zu überlegen, welche E-Mails Priorität haben. Dann arbeitet sie eine nach der anderen ab, ohne sich davon stressen zu lassen, dass noch so viele unbeantwortet vor ihr liegen. Vor jedem Telefonanruf versucht sie, ihren Körper bewusst wahrzunehmen. Wenn sie eine Anspannung im Nacken spürt, massiert sie sich kurz mit dem Noppenball, den sie in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrt, konzentriert sich wieder auf ihren Atem, trinkt ein Schluck Wasser und nimmt dann den Anruf entgegen.
Sie versucht jede Stunde einmal nachzuspüren, wie es ihr im Moment gerade geht. Ihr ist sehr bewusst, dass, wenn sie dies nicht macht, ihre Energie schnell verbraucht ist. Diese Mikrooase jede Stunde für ein, zwei Minuten hilft Helen, bei sich zu bleiben, sich zu spüren und wieder etwas Kraft zu tanken. Zwischendurch freut sie sich auf den Abend mit ihrem Mann und ihre Lieblingsserie.
Es ist üblich, die Pausen mit den Kollegen und Kolleginnen gemeinsam zu verbringen. Helen weiss, dass diese Zeit für ihr hochsensibles Nervensystem besonders anspruchsvoll ist. Zur Vorbereitung atmet sie ein paarmal tief ein und aus, drückt ihre Fusssohlen fest in den Boden und setzt ihre Schritte ganz bewusst und langsam. Im Pausenraum begrüsst sie die Anwesenden freundlich und sucht sich einen Platz am Fenster, von dem aus sie nach draussen in die Natur schauen kann. Dort isst sie ihren mitgebrachten Apfel und die Karotten (sie hat festgestellt, dass Rohkost ihr gut tut). In ihrer Lunchbox klebt ein Post-it in Herzform, auf dem steht: «Helen, du schaffst das!» Mit einem Lächeln erinnert sie sich daran, dass sie sich selbst diesen Zettel geschrieben hat und sie ist dankbar dafür, dass sie gut für sich sorgen kann. Sie hört den Gesprächen ihrer Kollegen und Kolleginnen interessiert und mit Anteilnahme zu, nimmt aber selten durch eigene Beiträge daran teil.
Am Nachmittag merkt sie schon, dass sie langsamer wird und es ihr schwerfällt, sich zu konzentrierten. Zeit für Routinearbeiten und das längst überfällige Gespräch mit ihrer Kollegin im Büro nebenan, die eine schwierige Zeit hat. Das Gespräch tut auch Helen gut, weil sie spürt, dass sie ihrer Kollegin etwas geben konnte und auch etwas zurückbekam.
Bevor Helen nach Hause fährt, geht sie noch eine Runde spazieren. Sie kennt einen speziellen Ort an einem kleinen See, der ihr Kraft gibt. Der Abend verläuft friedlich. Sie geht zur gewohnten Zeit ins Bett und freut sich daran, dass sie gesund ist und sich unter der Decke einkuscheln kann. Sie braucht zwar länger zum Einschlafen, weil die Dinge des Tages sie noch beschäftigen, aber das stört sie nicht, weil sie weiss, dass ihr Nervensystem am Abend Zeit zum Verarbeiten braucht.

Nun hast du zwei ähnliche, aber dennoch sehr unterschiedliche Tagesverläufe kennengelernt. Bei Katrin haben die Anforderungen ein Gefühl der Unzulänglichkeit hervorgerufen, während Helen, die sich ihrer Hochsensitivität bewusst war, den gleichen Anforderungen mit Achtsamkeit und nützlichen Strategien entgegentreten konnte.
Solange die Veranlagung nicht erkannt wird, leiden Hochsensible unter ihrer Situation und begegnen sich selbst mit Unverständnis. Gelingt es aber, die eigenen Hochsensitivität zu erkennen und sich damit bewusst auseinanderzusetzen, kann sie in die eigene Persönlichkeit integriert werden. Grundvoraussetzung dabei ist das Bewusstsein, über andere biologische Voraussetzungen zu verfügen. Bewusstsein schafft die Möglichkeit zur Akzeptanz. Diese wiederum ebnet den Weg zu nützlichen Strategien, um dem Energieverlust entgegenzuwirken, sich nicht länger mit anderen zu vergleichen und sogar Dankbarkeit und Freude für die eigene Art, im Leben zu stehen, zu empfinden.

Aus: ‘Hochbegabung und Hochsensibilität’
Theres Germann-Tillmann, Karin Joder, René Treier, Reneé Vroomen-Marell
Schattauer Verlag
ISBN: 978-3-608-40089-2